Vor kurzem durfte ich für das Magazin „Making Games“ einen Artikel über das Game Design von Serious Games am Beispiel meines Projekts EDURINO schreiben. Ihr könnt den Artikel sowohl in der Print Ausgabe als auch in der Online Version der Making Games auf Englisch lesen. Aber ich dachte mir, den möchte ich euch nicht vorenthalten. Und deswegen – und weil ich mich vor dem anspruchsvollen Thema Game Design von Serious Games bisher erfolgreich auf meinem eigenen Blog gedrückt hatte 😉 – veröffentliche ich ihn hier noch mal in überarbeiteter Version auf deutsch. Ebenfalls in drei Teilen. Im ersten Teil stelle ich euch heute eine meiner wichtigsten Methoden beim Game Design von Serious Games vor: Die Constraints Analyse.
Lernen im Rahmen von Serious Games ist ohne Zweifel wohl so ziemlich das coolste überhaupt. Denn Lernspiele sind nicht nur so weit von trockenem Frontalunterricht entfernt, wie der Strand von der Wüste. Sie schaffen dabei auch etwas, das zwar seit Jahren die Bildungsforschung von „normalem“ Unterricht fordert. Aber das eigentlich weitestgehend nicht geschafft wird einzulösen:
In Serious Games werden Lerninhalte situativ und kontextbezogen vermittelt
Das heißt, Lerninhalte werden nicht als theoretische Konstrukte vermittelt. Sondern sie werden in realistische und ganzheitliche Situationen eingebettet. Damit erübrigt sich nicht nur die Frage danach, wofür man den ganzen Mist eigentlich lernen soll. Sondern es erhöht auch drastisch die tatsächliche Anwendbarkeit und den Transfer von Lerninhalten.
Man lernt in Serious Games problembasiert und handlungsorientiert
In Serious Games stehen die User vor ganz konkreten und spannenden Herausforderungen. Diese bewältigen sie dann selbstständig durch ihr eigenes aktives Handeln. – im Gegensatz zu dem passiven Konsumieren von Inhalten, wie beispielsweise beim Frontalunterricht. So wird in Serious Games aus eben jenem Grund auch nicht nur allein trockenes Wissen vermittelt. Sondern die Spieler erwerben auch tatsächliche praktische Kompetenzen. Und das quasi nebenbei.
Serious Games sind abwechslungsreich, motivieren intrinsisch und man lernt nachhaltig
Nun ist es nichts neues, dass Spiele Spaß machen und intrinsisch motivieren. Also dass Spieler sie spielen, weil sie es wirklich wollen und nicht weil dafür eine externe Belohnung winkt. Es ist allerdings für ziemlich viele Menschen neu, dass auch trockene Inhalte zu lernen – wie das Periodensystem oder Parabelberechnung – wirklich so richtig, also ich meine so richtig Spaß machen kann und man gar nicht mehr damit aufhören will. Durch all diese Aspekte lernt man in Serious Games nachhaltig und nicht nur für die nächste Prüfung. Die Elemente des Periodensystems und ihre Kombinationsmöglichkeiten lassen sich einfach viel besser erinnern, wenn man sie schon mal praktisch in einem Kampf Zauberer gegen Zauberer dramatisch eingesetzt und heroisch gewonnen hat.
Und wenn ihr denkt, das denke ich mir aus… . Nö. Genau dieses besagte Spiel gibt es wirklich.
Nämlich an der großartigen und sagenhaften dänischen Boarding School Østerskov Efterskole. Diese unterrichtet ihre Schüler von der 8. – 10. Klasse fast ausschließlich (!) mit Spielen! Darunter eines, bei dem die Schüler in einem Edu Larp in die Rollen von Hexen und Zauberern wie bei Harry Potter schlüpfen. Und in diesem Spiel lernen sie auf besagte Weise das Periodensystem extrem erfolgreich und mit sehr, sehr, sehr viel Spaß. Zu diesem Spiel gibt es einen schönen Artikel vom Gründer der Schule Malik Hyltoft unter dem Link zu lesen. Ab Seite 27.
Serious Games are Serious Business
Aber so mächtig das didaktische Potential von Serious Games auch ist. So anspruchsvoll ist auch das Game Design eben dieser. Denn während normale Spiele „nur“ funktionieren, Spaß machen, sich vermarkten lassen und am Ende schwarze Zahlen schreiben müssen. So müssen Serious Games auch noch möglichst nachweisbar Lerninhalte oder Kompetenzen vermitteln oder gar reale Verhaltensänderungen bewirken.
Dafür sind – vermutlich wenig überraschend – neben Skills im Game Design auch Wissen und Erfahrung im Bereich (Sozial-)psychologie, Didaktik oder auch mal Soziologie extrem hilfreich. Ich kann für den Einstieg als wirklich gefällige Basislektüre „Sozialpsychologie“ von Aronson, Wilson und Akert aus dem Pearson Studium Verlag1Nein, das ist kein Affiliate Link 😉 empfehlen. Hier werden Themen wie sozialer Einfluss, prosoziales Handeln und allerhand Biases (also Verzerrungen) in der Wahrnehmung und auch die Beeinflussung von Menschen sehr anfängerfreundlich, praxisnah und anhand vieler verschiedener Beispiele und hübscher bunter Infoboxen erklärt.
Die Constraints mit den Constraints…
Dazu kommt aber vor allem auch, dass man es bei Serious Games in der Regel mit noch mal deutlich mehr Einschränkungen – also Constraints – zu tun hat, als bei jedem anderen „normalen“ Spiel. Sei es durch die Lerninhalte selber. Oder aber durch die oft auch speziellen Zielgruppen: Demente Senioren zeigen in der Regel keine herausragende Begeisterung gegenüber schrägem Humor und generellem Nerdtum. Kinder im Vorschulalter können fast immer noch nicht flüssig lesen. Und Manager bei Volkswagen sind alles in allem oft nicht so heiß auf geekige Badges oder ein episches Reittier wie man das oft von eingefleischten Gamern erwarten könnte. Aber auch vor allem die Lerninhalte selber machen es in der Regel unmöglich, einfach mal so drauf los ein cooles Spiel zu designen.
Einschränkungen im Game Design Prozess sind aber nicht per se schlecht. Ganz im Gegenteil. Oft können sie unglaubliche Kreativität frei setzen und vorher noch ungeahnte Innovationen erst ermöglichen. Kurz nach Erscheinen des Artikels in der Making Games sagte dann eine Kollegin zu mir als ich das mal wieder von mir gab:
„Constraints breeds creativity“
Und so stieß ich dann bei meiner Suche nach dem Original Zitat auch endlich auf den großartigen GDC Talk von Mark Rosewater, dem Head Designer von Magic: The Gathering. Empfehlenswert, weil echt unterhaltsam und wirklich lehrreich. – und nicht nur, weil mein Mann Helge C. Balzer unter anderem für Magic malt ;-). Sondern auch weil ich noch mindestens ZWANZIG weitere großartige Zitate aus dem Talk hätte ziehen könnte! (Seriously guys: watch the talk!).
In seinem Talk teilt Mark 20 Lessons aus seinen 20 Jahren als Head Designer bei Wizards of the Coast. Darunter eben auch Lektion 18: „Restrictions breed creativity“. Im wesentlichen verweist er auf die Eigenschaft unseres Gehirns, bekannte Herausforderungen möglichst immer auf die gleiche Weise zu lösen. Im Umkehrschluss bedeutet das zusammengefasst: Man muss als Designer seine Komfortzone verlassen. Man wird nicht wirklich kreativ und entwickelt keine echte Innovation, wenn man alles so macht wie immer. Und nichts fordert einen so wie Einschränkungen (Constraints). Und jeder, der schon mal mit mir gearbeitet hat oder diesen Blog gelesen hat, weiß: Ich habe keine Lust, das gleiche Produkt immer und immer wieder zu entwickeln 😉
Im Anschluss belehrte mich besagte Kollegin dann allerdings, dass die grundsätzliche Aussage wohl auf den amerikanischen Regisseur Orson Welles (Citizen Kane, Hörspiel „Der Krieg der Welten) zurück geht. Und der sagte wohl sowas wie:
The absence of limitations is the enemy of art
Orson Welles
Anyway:
Ich muss allerdings noch etwas super wichtiges ergänzen:
Constraints beflügeln nur dann die Kreativität, wenn man sie rechtzeitig (!) kennt! Denn nur dann beißen sie einem nicht während der laufenden Produktion in den Hintern 😉
Unentdeckte Constraints sind wie nicht kontrollierte Risiken
Ralf Adam hat mal beim Thema Risk List zu mir gesagt: „Wenn du die Risiken nicht kontrollierst, dann kontrollieren sie dich“. Und so wahr das in der Produktion mit der Risk List ist. So wahr ist das auch beim Game Design mit der Constraints Analyse. Stellst du dich gleich am Anfang proaktiv den Einschränkungen und arbeitest sie so früh wie möglich heraus, dann ploppen sie nicht nur nicht ständig in der laufenden Produktion auf und zerschießen dir im schlimmsten Fall immer wieder dein Konzept. Sondern gerade aus den vermeintlichen Einschränkungen entstehen dann oft die besten und die am auf die Zielgruppe und die Lerninhalte am idealsten zugeschnittenen Ideen.
Für mich haben sich in den letzten Jahren deswegen vor allem für das Game Design von Serious Games zwei meiner Methoden bewährt:
- eine Constraints Analyse und darauf basierend
- eine Game Design Problem Analyse.
(die kommt dann im nächsten Teil der Serie)
Die Constraints Analyse
Bei der Constraints Analyse schaue ich mir – möglichst gemeinsam mit dem Team – zunächst alle Einschränkungen für die Produktion und den Design Prozess an. Diese werden dann sortiert nach Kategorien an einem für alle einsehbaren Ort ordentlich dokumentiert. Ein Wiki ist für sowas natürlich immer toll. Auch wenn eine Constraints Analyse genau wie ein Game Design Document bei jedem Projekt anders aussieht. So haben sich die folgenden Kategorien bei mir in den letzten Jahren bewährt:
Produktions Constraints
Bei den Produktions Constraints finden wir so Klassiker wie den Release Termin und die daraus resultierenden Deadlines. Zum Beispiel die Deadline für die Gold Master Version, also das Spiel in komplett fertiger Version. Oder die Deadline für die Alpha Version, also die Version des Spiels wo es im wesentlichen voll funktional vorliegt („Feature complete“), aber noch nicht schick aussieht. Sprich die ganzen Art, Animation und Sound Assets sind noch nicht korrekt eingepflegt.
Aber auch das Budget oder spezielle Release- oder Vermarktungsansätze gehören unbedingt in diesen Bereich der Constraints Analyse. Zum Beispiel wenn man einen Early Access Release über Steam anstrebt und dafür regelmäßige Updates für die Spieler braucht. Sowas hat nicht selten massiven Einfluss auf Produktionsprozesse. Auch die Zielgruppe und ihre gerade bei Serious Games oft speziellen Bedürfnisse gehören hier rein. Aber auch Anforderungen von Stakeholdern oder Behörden, mit denen man es bei Serious Games öfter zu tun hat, sind hier meist am besten aufgehoben.
Technische Constraints
Hier sind vor allem zunächst die Klassiker zu nennen. Also zum Beispiel welche Engine man nutzt und was die kann und was nicht. Oder für welche Devices man entwickelt und wie, wo, in welchen Situationen und mit welchen Ansprüchen diese in der Regel genutzt werden (Stichwort use case). Aber gerade bei Serious Games kann das auch mal ein spezielles Device als Eingabemedium oder dergleichen sein oder ganz spezielle Einschränkungen, die man so bei „normalen“ Spielen eher nicht hat.
Art oder Usability Constraints
Auch im Bereich Art gibt es oft allerhand Einschränkungen. Zum Beispiel durch die Auflösung des Devices für das entwickelt wird. Oder durch eine Begrenzung des nutzbaren Bereichs des Displays. Zum Beispiel damit man das Kontrollzentrum des iPhones nicht ausversehen im Spiel triggert. Der Styleguide oder die Art Bible wäre hier auch eine ganz typische Einschränkung. Dieser Katalog, der zum Beispiel vorgibt, welche Farben oder Linienstärken etc. für was verwendet werden sollen, kommt allerdings in der Regel erst im Laufe der Preproduction dazu.
(Serious) Game Design Constraints
Bei den Game Design Constraints wird das ganze schon ein deutlich weiteres Feld. Und hier steht man dann auch tatsächlich schon mit einem Fuß in der konkreten Game Design Problem Analyse. Denn hier fließt für den Game Designer letztlich alles zusammen. Hier fällt alles rein von „das Spiel soll einen Coop Modus haben“ bis „die Questen dürfen für unsere Vorschulkinder nicht länger als 5-10 Minuten lang sein. Aber auch didaktische oder psychologische Aspekte wie etwa „wir müssen auf jeden Fall einen overjustification effect vermeiden“ – mehr dazu in Teil 2 – spielen bei den Game Design Einschränkungen für Serious Games eine große Rolle.
Hat man die ganzen Einschränken beginnt der Fun Part. Und darüber spreche ich dann im demnächst erscheinenden Teil 2 der Serie: Game Design von Serious Games.